Kurzgeschichten            

Die Macht des Wortes

Der Aufstieg war sehr mühsamgewesen. Völlig außer Atem und am Ende seiner Kraft überwand er die letzte Hürde und stand hoch oben nahe dem Gipfel des Berges. Die Aussicht war berauschend. Die Luft war klar und er konnte weit ins Land sehen. Grüne Wälder, Flüsse, Seen und Felder, alles lag vor ihm. Und dort in der Ferne konnte er die Umrisse der großen Stadt ausmachen, aus der er gekommen war. Für einen Moment genoss er die Aussicht, aber dann erinnerte er sich, weshalb er hierher gekommen war. Nicht wegen der Aussicht. „Nein, deshalb nicht“, murmelte er vor sich hin. Er wandte seinen Blick der Bergflanke zu.  Dort stand wie hingekauert eine kleine Hütte an den Felsen gelehnt. Trotz ihres offensichtlichen Alters war sie jedoch in einem sauberen und einwandfreien Zustand. Das Holz war verwittert und grau geworden, aber die Bretter waren noch ordentlich zusammengefügt und die Ritzen waren sauber verspachtelt. Die ebenfalls hölzernen Dachschindeln waren von der Sonne ausgebleicht und vom Regen glatt gewaschen. Einzelne Schindeln waren erneuert worden und leuchten in sanften Brauntönen, so dass das Dach aussah als wäre es mit Blättern bedeckt. Die kleinen Fenster waren mit Butzenscheiben verglast und schienen frisch gestrichen worden zu sein. Neben der Tür, stand eine kleine Bank. Sie schien neu zu sein. Ein paar Kissen lagen darauf und luden zum Sitzen ein. „Ein idyllischer Platz“, dachte er, „allein der Garten könnte etwas mehr Zuwendung gebrauchen.“ Um das Haus war ein kleiner Garten angelegt. Etwas Gemüse, ein fast winziger Apfelbaum und einige wunderschöne Blumen (Er kannte keine davon.) ragten aus dem Unkraut hervor, das fast den ganzen Grund bedeckte.

„Hallo!“ Er versuchte auf sich aufmerksam zu machen. „Hallo, ist hier jemand?“ Keine Antwort. Er wartete einen Moment und lauschte. Gerade als er noch einmal rufen wollte, hörte er ein Knarren. Die Tür öffnete sich und ein alter Mann trat heraus. Er war einfach gekleidet, trug eine Cordhose und ein kariertes Hemd. Beides war mehrfach geflickt, aber sauberer und ordentlich. Der Alte blinzelte gegen das Licht der Sonne. Fragend sah er den Fremden an. Dessen teuer anmutender Anzug sah nach dem Aufstieg schmutzig aus und war an einigen Stellen zerrissen. Seine italienischen Schuhe waren staubig und das Leder zerschrammt. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen und waren ganz bestimmt nicht dafür geeignet, auf Berge zu steigen.

„Was willst du?“, fragte der Alte. Seine Stimme klang sanft und freundlich.

„Äh, Hallo, ich bin …“ Plötzlich schien der Mann verlegen zu sein. „Ich wollte … äh …“ Er hielt inne und schien nicht genau zu wissen, was er sagen sollte.

„Na, komm erstmal rein!“ Der Alte machte eine einladende Handbewegung und trat zurück in die Hütte. „Und zieh die Schuhe aus!“

Im Innern der Hütte war es sauber und gemütlich. Ein wunderschöner Teppich bedeckte den einfachen Holzfußboden. Ein kleiner Tisch mit wertvollen Intarsien stand vor einem bequemen Sofa. Auch die anderen Möbel sahen wertvoll aus und obwohl sie aus allen Stilrichtungen zusammengewürfelt waren, schien jedes Teil doch genau dorthin zu gehören, wo es stand. Wirklich, der Raum sah urgemütlich aus.

„Setz dich!“ Der Alte brachte heißen Tee und setzte sich gegenüber in einen weichen Sessel. Der Fremde räusperte sich und wollte anfangen zu sprechen, doch der Alte hob die Hand. „Warte noch! Sprich erst, wenn du wirklich bereit bist. Worte sind viel zu wichtig, als dass man sie leichtfertig verschleudern sollte.“

Eine Zeit lang schwiegen beide.

Dann begann der Alte zu erzählen. „Viele sind schon vor dir gekommen und es werden dir viele folgen. Sie alle haben etwas gemeinsam. Ihr Leben soll sich in einem ganz bestimmten Punkt ändern. Doch bevor sich ihr Leben ändern konnte, mussten sie etwas opfern, was ihnen lieb und teuer war. Das, was sie opfern mussten, war gewöhnlich tief in ihrem Innersten verborgen und nur jeder für sich allein konnte erkennen, was es war. Auch mir blieb es oft verborgen.“ Er machte eine umfassende Handbewegung. „Allein als Symbol und um zu verstehen, was es bedeutet, dieses Opfer zu bringen, musste jeder einen Gegenstand, der ihm lieb und teuer war, hergeben. Der Schmerz dieses Verlustes, machte sie bereit, das innere Opfer zu verstehen. Das alles, was du hier siehst, sind die Gegenstände, von denen sich die anderen so schmerzvoll getrennt haben, um schließlich etwas viel Wertvolleres zu bekommen. Aber nun sag, was willst du in deinem Leben geändert haben?“

Stockend berichtete der Fremde: „Ich bin Manager einer großen, international tätigen Softwarefirma. Vor kurzem habe ich mich in eine junge Frau verliebt. Sie heißt Lisa. Um sie zu gewinnen, habe ich ihr Blumen und Juwelen geschenkt, aber sie sagte immer wieder, dass ihr das nicht genug sei. Ich fragte sie, was sie denn noch wolle, aber sie sagte nur, das müsse ich selbst herausfinden. Ich habe überlegt und überlegt, doch es fiel mir nichts ein, was ich ihr noch geben könnte. Können sie mir helfen?“

Bitte sagen sie mir, was sie will!“

Der Alte lächelte. „Dein Fall ist einfach.“

„Wirklich?“

„Du brauchst nur ein Wort der Macht.“

„Dann geben sie es mir! Bitte!“

„Nein, nein, so schnell geht das nicht. Hast du schon vergessen, dass du erst etwas opfern musst?“ „Ich gebe ihnen alles, was sie wollen, nur geben sie mir das Wort der Macht! Was wollen sie haben?“ Er schaute sich um. „Eine Kommode? Ich habe eine wunderschöne Kommode in meinem Wohnzimmer stehen, die würde hier genau reinpassen.“

Nein“, der Alte schüttelte den Kopf. „Ich möchte deine Zeit.“ Der Fremde sah ihn verständnislos an. „Ich möchte“, fuhr der Alte fort, „dass du meinen Garten machst, das Unkraut ziehst, die Beete einfasst und die Erde umgräbst. Auch der Baum müsste beschnitten werden. Wenn der Garten ordentlich ist, dann gebe ich dir das Wort.“

„Aber, das dauert ja Tage! So viel Zeit habe ich nicht. Heute Abend schon habe ich eine Sitzung und morgen muss ich nach Norwegen, um ein Geschäft einzuleiten.“

Der Alte nickte. „Du musst natürlich wissen, was du tust. Aber dein Opfer wird nicht irgendein Gegenstand sein. Das Opfer, das ich von dir erwarte ist deine Zeit. Wen du bereit bist, dieses Opfer zu bringen, dann bist du auch bereit, für das Wort der Macht. Trink deinen Tee!“

Mit diesen Worten hob der Alte seine Tasse und nickte dem Fremden zu.

Der begann erneut: „Kann ich ihnen nicht etwas anderes geben? Vielleicht …“

Der Alte schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Nur deine Zeit“, sagte er sanft. „Nichts anderes wird dir helfen, bereit für das Wort zu sein.“

Nach einer Weile nickte der Fremde. „Gut, ich mach´ s.“  

*

Nach einer Woche, war der Garten wunderschön geworden. Es war mühsam gewesen, das Unkraut auszureißen. Es hatte sich in den steinigen Boden regelrecht festgekrallt. Auch das Umgraben war äußerst schwer gewesen, da der Boden so hart gewesen war. Aber nun war alles fertig, die Beete waren eingefasst und der Baum war so beschnitten, das er viele Früchte tragen würde. Erwartungsvoll stand der Fremde vor dem Alten, der ihn mit einem warmen Lächeln bedachte. „Das hast du gut gemacht“, lobte er ihn. „Du hast dir deine Belohnung redlich verdient.“ Er gab ihm einen kleinen zusammengefalteten Zettel. Der Fremde faltete ihn auseinander und las das Wort, das da stand. „Das ist alles? Das ist das Wort der Macht?“ Er blinzelte. Tränen schossen ihm in die Augen. „Wie kann dieses Wort machtvoll sein? Das wird nie und nimmer, dafür sorgen, dass sie sich in mich verliebt.“ „Oh doch, dass wird es.“ Der Alte sprach nun sehr bestimmt. „Du musst es nur im richtigen Augenblick sagen.“ „Aber wann ist der richtige Augenblick?“ „Das mein Freund, wird du wissen, wenn er da ist. Geh nun zu ihr, verbringe etwas Zeit mit ihr und du wird den rechten Augenblick finden. Vertrau mir!“ Er umarmte den Fremden, der in dieser Woche sein Freund geworden war. Während der Arbeit, hatte er ihm Gesellschaft geleistet und sie hatten viele gute Gespräche geführt. Der Alte ging zu seinem Haus zurück und setzte sich auf seine Bank. Zufrieden betrachtete er seinen Garten, während sein Freund sich auf den Weg zurück machte.

*

Weil er eine Woche nichts von sich hören ließ, hatte sein Chef ihm gekündigt. Er war jetzt kein gut bezahlter Manager mehr. „Wie soll sie sich den jetzt in mich verlieben, wo ich nichts mehr bin?“ Aber er dachte an den Zettel in seiner Tasche. Mit dem Wort der Macht, würde es schon klappen. Er suchte sich eine neue Arbeit. Eine die nicht so viel Zeit in Anspruch nahm. Er wollte so viele Augenblicke wie möglich bei der Frau verbringen, die er liebte, um im richtigen Moment da zu sein. Und dann wollte er ihr das Wort sagen und sie würde ihn lieben. Doch der Augenblick kam und kam nicht. Immer wenn er dachte: „Jetzt ist es soweit, jetzt sage ich ihr das Wort“, fühlte er wieder Zweifel in sich und wartete noch ab. So verging die Zeit und langsam kamen sich die beiden näher. Als er sie an einem Sonntag fragte, ob sie ihn heiraten würde, sagte sie ja. Die Hochzeit wurde im Garten gefeiert, mit all den Freunden, die er durch sie kennen gelernt hatte. Er musste an den Garten, oben auf dem Berg, denken und ihm wurde bewusst, dass er ihr das Wort immer noch nicht gesagt hatte. „Wenn sie ihre Liebe zu mir verlieren sollte, werde ich es sagen, bestimmt ist dann der richtige Augenblick.“ Doch der Tag, an dem sie ihre Liebe zu ihm verlieren sollte, kam nie. Sie leben viele Jahre zusammen und zogen drei wunderbare Kinder groß. Alle Schwierigkeiten, die sich ihnen entgegen stellten, meisterten sie, mit ihrer Liebe zueinander. Und eines Tages, sie waren schon sehr alt geworden, spürte er, dass er sterben würde. Er war nicht traurig, denn er hatte ein gutes Leben gehabt und er wusste, dass es ein Weiterleben nach dem Tod gab. Deshalb war er sich sicher, dass er von seiner geliebten Frau nur eine kleine Weile getrennt sein würde. Sie würde ihm folgen, dessen war er sich gewiss und er würde drüben auf sie warten. Die ganze Familie war gekommen, um Abschied zu nehmen, als er im Sterben lag. Auf weichen Kissen gestützt sah er alle noch einmal an und spürte, wie die Welt um ihn herum langsam versank. Schließlich nahm er alles um sich herum nur noch schemenhaft war. Nur seine Frau sah er noch deutlich und wie in ein überirdischen Licht gehüllt. Sein Geist wollte schon gehen, da spürte er es. Dies war der richtige Augenblick. Er griff nach dem Zettel, den er so viele Jahre aufbewahrt hatte und faltete ihn auseinander. Er konnte nicht mehr lesen, was darauf stand, aber das brauchte er auch nicht. Er wusste auswendig, welches Wort darauf stand. Er flüsterte. Seine Frau beugte sich ganz nah zu seinem Ohr, um zu hören, was er sagte. Dann lächelte sie, Tränen traten ihr in die Augen. „Ich weiß“, sagte sie, „ich weiß.“

 

Der Gedanke der über den Regenbogen kam

Es hatte geregnet, ziemlich doll sogar. Dicke Tropfen klatschten auf die Straße und spritzten in alle Richtungen. Das sah aus, als würden lauter kleine Kronen über die Straße tanzen. Bestimmt sind ganz viele Froschkönige unsichtbar unter dem Regen hindurch gehüpft. Nach einer Weile hörte es wieder auf zu regnen. Die Sonne scheuchte die Wolken davon und beleuchtete eine frisch gereinigte Welt. Aller Staub war aus der Luft gewaschen und in den Rinnstein gespült. An den Gräsern und Sträuchern glitzerten die restlichen Regentropfen um die Wette und sahen aus wie Diamanten. Das war wunderschön.

Das allerschönste aber warder Regenbogen, der am Himmel stand.

Ich hatte noch nie einen schöneren Regenbogen gesehen. Er war vollkommen zu sehen, nicht nur so halb. Auch war er zwischendrin nicht unterbrochen oder an den Enden zerfasert, sondern er stieg vom Boden links von mir auf, schwang sich in einem Halbkreis nach oben, um dann wieder rechts von mir, den Boden zu berühren. Und erst diese vielen Farben. Von violett über rot und blau zu grün und gelb, orange nicht zu vergessen und alle Nuancen dazwischen. Und wie diese Farben leuchteten. Ich glaube, ich habe nie etwas Schöneres gesehen. Ausgenommen vielleicht meine Frau, als sie unsere neugeborenen Babys in ihren Armen hielt. Aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie euch irgendwann einmal.

Heute will ich euch von einer anderen Geburt erzählen. Von der Geburt eines Gedankens. Eines Gedankens so rein und klar, so voller Zuversicht und Liebe, wie er vollkommener und schöner nicht sein könnte. Dieser Gedanke kam von der anderen Seite des Regenbogens.

Um die Geschichte zu erzählen, muss ich ein wenig ausholen und euch von den Eltern des kleinen Gedankens berichten.

Vater Gedanke war groß und stark. Er wusste, was er wollte. Er war ehrlich und gerade. Er arbeitete hart und war sehr fleißig. Wenn er sich etwas vornahm, dann ging er ohne zu zaudern darauf zu, zögerte nicht und erreichte sein Ziel in kurzer Zeit. Er war gerecht und genau, ordentlich und sauber. Auf seine Art, war er ein guter Gedanke.

Mutter Gedanke war sehr zart. Sie war leise und sanft. Sie war freundlich, liebevoll und nett. Sie strahlte Zuversicht und Hoffnung aus. Die beiden Eltern ergänzten sich prächtig und einer half dem anderen, wo immer dieser Hilfe benötigte. Sie liebten sich sehr. Und mit dieser Liebe wurde der kleine Gedanke gezeugt.

Als Mutter Gedanke merkte, dass sie schwanger war, konnte sie gar nicht abwarten, es ihrem Mann zu sagen. Voller Aufregung wartete sie auf seine Rückkehr von der Arbeit.

Als er kam, merkte er sofort, dass etwas Besonderes passiert war. Zuerst wollte sie es noch ein wenig spannend machen, doch sie hielt es nicht lange aus und offenbarte ihm das Geheimnis. Was für eine Freude. Ein Kind! Sie würden Eltern werden.

Vater Gedanke passte von nun an auf, dass es seiner Frau immer gut ging. Klar, dass hatte er bisher auch getan, aber nun passte er besonders gut auf. Er brachte ihr jeden Tag etwas Leckeres zum Essen oder andere kleine Geschenke mit. Und wenn sie mitten in der Nacht Heißhunger auf saure Gurken oder etwas Süßes hatte, so fuhr er zur Tankstelle, um es zu holen. Er zögerte auch nicht, den Gedanken vom Warenhaus zu wecken, wenn er bei der Tankstelle nicht das bekam, was sie gerne wollte. Der Gedanke vom Warenhaus war sein Freund und hatte kürzlich selbst eine kleine Tochter bekommen und wusste genau, wie ungewöhnlich manchmal die Wünsche von schwangeren Frauen waren, deshalb hatte er viel Verständnis für seinen Freund.

Schließlich war der Tag gekommen, an dem der kleine Gedanke geboren werden sollte. Vater Gedanke hatte sich von der Arbeit natürlich frei genommen, denn er wollte bei der Geburt dabei sein und seiner Frau zur Seite stehen. Und dann war es soweit. Die Wehen setzten ein und schwubdiwup war der kleine Gedanke geboren.

Er war so zart und klein, so rein und klar; so etwas Niedliches und Liebes hatte keiner der Beiden je gesehen. Beide Eltern waren sofort in den kleinen Gedanken verliebt. Sie fühlten, dass ihr kleiner Gedanke etwas ganz Besonderes war. Nun sind neugeborenen Babys für die Eltern natürlich immer etwas Besonderes, aber dieser kleine Gedanke war, - nun, wie soll ich es euch erklären? -, eben etwas ganz besonders Besonderes.

Es zeigte sich sehr früh, wie freundlich der kleine Gedanke war. Er schien immer zu wissen, wie er anderen eine Freude machen konnte und alle Verwandten und Bekannten waren voll des Lobes, wenn sie von ihm sprachen.

Es dauerte gar nicht lange, da wollte der kleine Gedanke in die Welt hinaus.

„Mama, Papa, ich muss in die Welt hinaus. Ich werde gebraucht“, sagte der kleine Gedanke eines Abends. Die Eltern waren zuerst ziemlich erschrocken, das kann ich euch sagen. Aber nachdem ihr Kleiner ihnen erklärte, dass er fühlte, wie sehr er gebraucht wurde und dass der liebe Gott ihm in einem Traum einen Auftrag gegeben hatte, da stimmten sie schließlich zu. Mama Gedanke packte ihm noch ein Butterbrot mit seiner Lieblingsmarmelade ein, Papa Gedanke gab ihm noch etliche gute Ratschläge mit auf dem Weg, aber dann ließen sie ihn gehen.

Frohgemut machte sich der kleine Gedanke auf den Weg, gerade in dem Augenblick, als dieser wunderschöne Regenbogen am Himmel stand. Er kletterte den Regenbogen auf der einen Seite hinauf und rutschte dann unter fröhlichem Jauchzen auf der anderen Seite wieder hinunter. Und so kam er zu mir.

 

Ich stand traurig am Fenster. Heute war kein besonderer Tag gewesen. Dabei hatte ich, als ich heute Morgen aufstand, das Gefühl, es würde ein ganz besonderer Tag werden. Ich war mir so sicher gewesen! Doch nun stand ich am Fenster und dachte darüber nach, warum es kein besonderer Tag geworden war. Nichts war passiert. Alles war normal. Ich war zur Arbeit gegangen, wie jeden Tag und hatte meine Arbeit ordentlich erledigt. Dann hatte ich noch einen kranken Freund besucht. Zu Hause half ich meiner Frau, das Abendessen zu bereiten und dann waren wir mit dem Abtrocknen fertig und der Tag war fast vorbei. Ein ganz normaler Tag eben.

Der Tag, an dem ich meine Frau kennen lernte, ja, dass war ein besonderer gewesen. Ich musste lächeln, als ich daran dachte. Unser Hochzeitstag, war so wunderbar, wunderbar auch die Tage, an denen unsere Kinder geboren wurden. Als ich meine Prüfung bestand, als ich befördert wurde, als ich die anderen kleinen und großen Erfolge erlebte, waren das ebenfalls besondere Tage gewesen. Aber heute?

Da bemerkte ich im Licht der Abendsonne den Regenbogen, der am Himmel  leuchtete. Und genau in diesem Augenblick kam er zu mir.

Der kleine Gedanke berührte mich leicht. Ich nahm ihn wahr und schaute ihn an. Was für ein schöner Gedanke!

„Du?“ fragte ich. „Warst du nicht schon mal bei mir, als ich meine Frau kennen lernte?“

„Das war mein Papa“, antwortete der kleine Gedanke.

„Aber als meine Kinder zur Welt kamen? Das warst doch du, oder?“

„Nein, das war meine Mama.“ Der kleine Gedanke lächelte.

„Und all die anderen, schönen Momente in meinem Leben? Das warst nicht du?“

„Nein, nein, das waren meine Brüder und Schwestern.“

„Dann kenne ich dich gar nicht?“

„Nein, noch kennst du mich nicht.“

„Und warum bist du hier? Es ist doch gar kein besonderer Tag heute. Nichts Besonderes ist passiert, nicht Schönes ist mir widerfahren.“

„Wirklich nicht? Ist dir denn etwas Schlechtes widerfahren?“

Ich dachte einen Moment nach. „Nein, es war einfach ein ganz normaler Tag. Nichts Gutes und nichts Schlechtes habe ich erlebt.“

„Soso“, machte der kleine Gedanke, „und kommt dir das nicht eigenartig vor?“

„Eigenartig? Wie meinst du das?“

„Nun, überleg doch mal! Es ist dir nichts Gutes widerfahren, sagst du. Es ist dir aber auch nichts Schlechtes widerfahren, nicht wahr?“

„Ja, das ist richtig“, stimmte ich zu.

„Und wenn dir nichts Schlechtes widerfahren ist? Ist das denn nichts Gutes?“

„Nun“, überlegte ich ein wenig verwirrt. „Es ist schon ganz in Ordnung.“

Der kleine Gedanke wechselte das Thema. „Erzähl mir ein wenig von dir!“

Ich blickte ihn erstaunt an. „Erzählen? Was soll ich dir denn erzählen?“

„Ich weiß nicht. Es ist dein Leben. Erzähl mir, was du willst!“

Ich dachte ein wenig nach. Eigentlich hatte ich gar kein besonderes Leben. Es war nicht schlecht, oh nein! Es war schon ganz in Ordnung, möchte ich meinen. Aber: Es war eben nichts Besonderes.

Der kleine Gedanke wartete still. Er drängte mich nicht, lächelte mich nur freundlich an. Ich fühlte mich sehr wohl, so wie er mich ansah.

Schließlich fiel mir etwas ein und ich begann zu erzählen. Und als ich anfing, da kam es mir vor, als ob ein Schleier von meinen Gedanken weggenommen wurde. Plötzlich sah ich mein Leben in einem ganz anderen Licht. Es schien so großartig zu sein. Mit dem Erzählen wurde jeder einfache Tag zu einem Erlebnis. Diese Art mein Leben zu betrachten, war so wunderbar. Er war ..., - wie soll ich es euch erklären? - Ach, am besten zeige ich es euch an einem Bild:

Stellt euch unsere Welt nach einem Regen vor. An jedem Strauch, an jedem Ast, an jedem Grashalm, auch am allerkleinsten, hängen Wassertropfen. Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor und ihre Strahlen lassen die Wassertropfen glitzern und funkeln. Jetzt scheint es, als hängen dort lauter Edelsteine, prachtvolle Diamanten, Smaragde, Rubine und Saphire. Bis jetzt hatte ich immer nur die Wassertropfen gesehen, nass und kalt, brrr! – Doch seit mich der kleine Gedanke berührt hat, sehe ich lauter Edelsteine.

Und als Edelsteine sah ich jetzt auch die Tage meines Lebens. Ich erzählte dem kleinen Gedanken alles, woran ich mich erinnerte, von jedem einfachen Tag: mein ganzes Leben.

Als ich geendet hatte, fragte ich ihn: „Hätte ich mein Leben besser leben können?“ Gespannt wartete ich auf eine Antwort.

„Ich weiß nicht. Hättest Du?“

„Ich glaube nicht“, antwortete ich langsam, „aber ich kann es ja von jetzt an besser leben.“

„Ja“, kam die Antwort, „von jetzt an kannst du es. Und morgen kannst du es noch ein wenig besser als heute und übermorgen noch ein wenig besser als morgen. Du konntest das schon immer.“

Dann beugte er sich ganz nahe an mein Ohr. Und das, was er dann zu mir sagte, berührte mich sehr. Es veränderte mein ganzes Leben. Ich kann es euch nicht weitersagen, denn es war nur für mich bestimmt, aber es war etwas ganz Wunderbares.

„Ich muss jetzt weiter“, sagte der kleine Gedanke zu mir

„Und?“ fragte ich, „kommst du wieder?“

„Wenn du es willst?“

„Ja!“

Ich hatte kaum das Wort ausgesprochen, da war er auch schon auf dem Weg.

Ich war mir ganz sicher, ich wollte, dass der kleine Gedanke mich oft besucht. Nicht an den Tagen, an denen etwas Besonderes geschieht, an denen ich viel Glück habe oder viel Erfolg. Nein, ich wollte, dass der kleine Gedanke mich an jeden einfachen Tag besucht. Eigentlich wollte ich, dass er immer bei mir bleibt.

„Kannst du nicht einfach bleiben?“  rief ich hinter ihm her.

Er schaute zu mir zurück. „Ich möchte schon, aber du bist noch nicht bereit dazu.“ Plötzlich schien er etwas traurig zu sein. Ich sah, wie eine klitzekleine Träne, aus seinem Auge fiel, wie eine kostbare Perle.

Doch der traurige Moment verging schnell und gleich darauf lachte er wieder. „Aber sei nicht traurig! Ich bin nicht weit weg. Und immer wenn du mich brauchst, komme ich zu dir. Du musst es nur wollen!“

Der kleine Gedanke war wieder verschwunden. Aber er hatte seine Spuren in mir hinterlassen.

Ich drehte mich um und ging zu Bett, denn inzwischen war es spät geworden. Meine Frau lächelte mir zu und ich lächelte zurück. Wir unterhielten uns noch ein wenig und ich erzählte ihr von dem kleinen Gedanken. Jetzt kennt sie ihn auch.

Als ich einschlief, spürte ich, dass der kleine Gedanke ganz in meiner Nähe war. 

Ich spüre ihn noch heute, an jeden einfachen Tag.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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